Die Universität Göttingen nach dem Nationalsozialismus.
Vergangenheitspolitische Kommunikation am Beispiel der Fächer Geschichte und Physik (1945–1965)
Die Universität Göttingen wurde im Herbst 1945 als erste Hochschule aller Besatzungszonen wiedereröffnet. Das Universitätskollegium setzte sich in der Folge aus Wissenschaftlern zusammen, die das „Dritte Reich“ aus höchst unterschiedlichen Blickwinkeln erlebt hatten: aus etablierten Hochschullehrern, deren Karriere während der NS-Zeit nicht unterbrochen oder sogar gefördert worden war; aus Remigranten, die vor den Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes geflüchtet und zurückgekehrt waren, und nicht zuletzt aus Wissenschaftlern, die vorher an den ideologisch besonders infiltrierten Universitäten in den Ostgebieten gewirkt hatten. Zudem blieben belastete und entlassene Personen oftmals vor Ort. Am Beispiel der Fächer Geschichte und Physik untersucht das hier vorgestellte geschichtswissenschaftliche Vorhaben die vergangenheitspolitische Kommunikation über die Zeit des „Dritten Reichs“, mit der sich die Georg-August-Universität seit 1945 national wie international positionierte. Anhand privater und administrativer Korrespondenzen, die insbesondere im Rahmen von Entnazifizierungs-, „Wiedergutmachungs“- und Berufungsverfahren angefallen sind, soll herausgearbeitet werden, wie die Universität mit der ideologischen Durchdringung ihrer Fächer, der nationalsozialistischen Personalpolitik und ihrem eigenen Beitrag zur Durchführung von NS-Gesetzen umgegangen ist und in welcher Form die zwölf Jahre des „Dritten Reichs“ das Selbstbild der Universität und ihres Personals nach 1945 tangiert hatten. Dabei wird die universitäre „Vergangenheitspolitik“ (N. Frei) erst unter der britischen Besatzungsmacht und dann während der frühen Bundesrepublik dargestellt, sie auf die NS-Zeit zurückbezogen und gleichzeitig mit einer doppelten Außenperspektive (Emigranten / britische Besatzung) versehen.
Die Fächer Geschichte und Physik dienen als Sonden in die Göttinger Vergangenheitspolitik. Beide Fächer fungierten während „Dritten Reichs“ als Legitimationswissenschaft, die Geschichtswissenschaft durch die Ideologisierung ihrer Forschungsthemen, die Physik durch ihren Beitrag zur Rüstungsforschung. Nach 1945 waren es renommierte Verfolgungsopfer und Emigranten wie die Physiker Max Born und James Franck, die ihre Kontakte zur Göttinger Universität reaktivierten. Zudem siedelten sich für beide Fächer Max-Planck-Institute mit weiteren vergangenheitspolitischen Akteuren an.
Das Forschungsprojekt will die semantischen Veränderungsprozesse, vor allem die Sagbarkeitsregeln analysieren, die sich im Kreise der jeweiligen Instituts- und Fachangehörigen vor Ort wie in der Kommunikation mit aus Göttingen emigrierten Wissenschaftlern entwickelten. Einbezogen wird ebenfalls die die für beide Fächer relevante und zugleich über sie hinausweisende vergangenheitspolitische Argumentation der Universitätsleitung – unter anderem gegenüber der niedersächsischen Landesregierung.
Das Forschungsprojekt wird vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur seit Juli 2014 gefördert und von Prof. Dr. Dirk Schumann und Prof. Dr. Petra Terhoeven begleitet.
Zusätzlich wurde ein Gerald D. Feldman-Stipendium der Max-Weber-Stiftung für die Archivrecherchen im Ausland eingeworben.
Vorträge
- Der lange Weg zur Briefmarke: Max Born und James Franck zwischen politischer Stellungnahme und vergangenheitspolitischen Ehrbezeugungen (Juni 2014) | Tagung: Ehrregime: Akteure, Netzwerke und Praktiken lokaler Ehrungen im 19. und 20. Jahrhundert der Arbeitsstelle „Regionale Geschichtskulturen“ im Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Prof. Dr. Dietmar von Reeken| Jun.-Prof. Dr. Malte Thießen)